Neben den zurecht weit verbreiteten und sehr beachteten Büchern afro-amerikanischer Autoren sind Veröffentlichungen von Native Americans einem größeren Publikum weniger bekannt. Wenig bekannt ist hierzulande auch, dass die indianische Literaturszene über eine Tradition verfügt, die über 100 Jahre zurück reicht. Zur indianischen Literatur gehören nicht nur so Klassiker wie Vine Delorias "Gott ist rot", sondern auch Werke zeitgenössischer Autoren wie Tommy Oranges "Dort dort", von dem bereits eine deutsche Übersetzung vorliegt. Auf dieser Seite soll hin und wieder das eine oder andere Buch eines Verfassers indianischer Herkunft vorgestellt werden.
Der Jurist, Theologe und Oglala-Dakota Vine Deloria jr. setzt sich in seinem Buch "Gott ist Rot" intensiv mit dem Christentum im Vergleich mit den indianischen Religionen auseinander. Dem Christentum attestiert er ein Denken in zeitlichen Kategorien, während bei den indianischen Religionen räumliche Vorstellungen im Vordegrund stünden. Das Urteilsvermögen der christlichen Religionen werde aus der Vergangenheit abgeleitet. Die auf den Raum bezogenen Religionen sieht Deloria dagegen sehr viel mehr mit der Gegenwart verbunden als das Christentum und er erkennt in ihnen eine praktische Dimension, die dem Christentum fehle.
Als Beispiel führt er die Schöpfungsgeschichte an. Die christliche Schöpfung sei ein einmaliger Akt, der in der Vergangenheit stattgefunden habe. Die Schöpfung sei für die indianischen Gruppen Nordamerikas dagegen mit dem jeweiligen Land, auf dem diese Gruppen lebten, verbunden. Dem Land sei im religiösen Denken der Indigenen vom "Großen Geist" die Aufgabe gegeben worden, die Menschen, die auf ihm leben, zu ernähren. Das Land und seine Bewohner müssen demnach in einem immer währenden Prozess zusammenwirken, um diese Aufgabe erfüllen zu können. Die auf dem Land, im Wasser und in der Luft lebenden Kreaturen sind in diesen Glaubensvorstellungen eine Einheit. Sie leben in einer Art Harmonie miteinander. Die christliche Schöpfung sei dagegen ein einmaliger Akt, in dem Gott die Menschen erschuf und ihnen die Erde gab, um sie sich untertan zu machen. Deloria leitet hieraus ab, dass die Erde zu einem bloßen Objekt der Menschen wurde, das sie nach ihrem Willen ausbeuten dürfen. Er beschreibt die Natur im christlichen Glauben als etwas , das einen Gegensatz zu den Menschen darstellt, das ihnen Angst einjagt, wild und ungezähmt ist. Die Schöpfung sei im christlichen Verständnis ein historisches Ereignis, das sich so oder so ähnlich, wie es beschrieben wird, zugetragen habe. Im indianischen Denken seien die Schöpfungslegenden meist mit Erinnerungen an besondere Ereignisse wie Katastrophen o. ä. verbunden. Daher könne es bei unterschiedlichen Gruppen auch unterschiedliche Schöpfungsgeschichten geben.
Deloria belegt die Abwehrhaltung der nordamerikansichen Urbevölkerung gegenüber vielen Teilen der christlichen Religion und manchem Verhalten der Christen mit zahlreichen Zitaten indianischer Häuptlingen. Diese zeugen von einer sehr nüchternen und realistischen Haltung gegenüber dem Ansinnen der Missionare, den christlichen Glauben anzunehmen. Einer weist darauf hin, dass auch die Indianer ihre Religion von ihren Vorfahren übernommen haben wie die Christen. Ein anderer wirft den Weißen vor, dass sie sich selber nicht nach den Gesetzen ihrer eigenen Religion richteten, dieses aber von den Indianern erwarteten. Anders als die Christen würden die Indianer niemals über ihren "Großen Geist" streiten. An anderer Stelle heißt es, dass es Menschenfreundlichkeit und damit wahres Christentum nur in indianischen Gemeinschaften gäbe. Eine weitere Aussage vergleicht die Toten der Christen, die ihre Nachfahren nicht lieben könnten, wenn sie ihr Grab verlassen und gen Himmel fahren, weitab von ihrer Heimat, mit den Verstorbenen indianischer Gemeinschaften, die in der Erde ihrer Gemeinschaft ruhen, die den Nachkommen deshalb heilig sei und nicht aufgegeben werden dürfe.
Der Wert von Delorias Schilderung der indianischen Glaubensvorstellungen liegt darin, dass hier jemand berichtet, der nicht von außen betrachtet, sondern der so denkt, empfindet und fühlt wie er schreibt. Gleichzeitig ist "Gott ist rot" eine Anklage gegen das Christentum. Sätze wie "Der Tod wird" von Christen "gefürchtet, verstanden wird er kaum," oder der vom "winselnden Sündenbekenntnis" am Ende eines christlichen Lebens oder der, dass "das moderne Christentum ziemlich mißgestaltet" sei "wenn es überhaupt eine Gestalt hat" mögen irritieren. Verwundern dürfen sie kaum, sind sie doch eine Reflex auf die Untaten der europäischen Einwanderer bei der Besiedlung Amerikas und auf das gefühllose und ignorante Verhalten vieler Missioner beim Versuch, die Einheimischen zu bekehren. Indem Deloria den Unterschied zwischen den christlichen Kirchen mit ihrem großen institutionellen und organisatorischen Aufwand und den indigenen Religionen, die einen solchen Aufwand nicht brauchen, herausarbeitet, macht er gleichsam deutlich, wie nahe der Glaube der indianischen Gruppen bei den Menschen ist, die ihn praktizieren. Die Ausführungen Delorias muten manchmal so an, als ob die indianischen Religionsgemeinschaften dem Urchristentum näher standen als das heutige Christentum. Die indianischen Religionen kennen keine Weltgeltung und beanspruchen keine Ausschließlichkeit gegenüber anderen Religionen. Ein Missionierungsdenken ist ihnen daher fremd. Mit viel, manchmal vielleicht etwas übertrieben viel, Ironie legt Deloria den Finger in die Wunden, die das Christentum im Laufe der langen Zeit seines Bestehens hinterlassen hat. Die Darlegungen Delorias stehen nicht über den Parteien, sondern sie nehmen Partei. Schließlich ist Deloria selbst Betroffener. Er wendet sich daher in vielen Passagen auch weitgehend an ein indigenes Publikum, dem er Mut machen will, zu seinem Glauben zurückzukehren und damit die Traditionen zu bewahren. Den christlichen Lesern vermittelt Deloria eine erste Annäherung an indianische Glaubensvorstellungen.
Weitere Titel von Vine Deloria jr.:
Custer starb für deine Sünden.
Nur Stämme werden überleben.
Rote Erde, weiße Lügen.
Die Paiute-Indianerin Sarah Winnemucca veröffentlichte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Aufzeichnungen, in denen sie über ihr Leben erzählt. Zunächst schildert sie sowohl ihre Ängste als Kind bei den ersten Begegnungen mit Weißen als auch die Freundlichkeit und Achtung, mit der ihr Großvater sich gegenüber den Fremden verhielt. Gastfreundlichkeit und Liebenswürdigkeit gegenüber anderen Menschen beschreibt Winnemucca als eine grundlegende Wesenseigenschaft der Paiute. Sie berichtet von den familiären Gebräuchen, der Arbeitsverteilung nach Geschlechtern sowie den öffentlichen Aufgabenverteilungen und den Ratsversammlungen, in denen alle Angelegenheiten, die die ganze Gruppe angingen, verhandelt wurden. Die Rolle, die die Frauen bei solchen Versammlungen spielten, illustriert sie recht anschaulich und erstaunlich aktuell, wenn sie darauf hinweist, dass den Indianern ihrer Meinung nach Gerechtigkeit wiederfahren wäre, wenn es im amerikanischen Kongress auch weibliche Mitglieder gegeben hätte. Sie betont weiterhin das große Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft, das dazu führte, dass eine starke Abneigung dagegen bestand, voneinander getrennt zu werden.
Der Bericht von Winnemucca über ihr Leben im Reservat zeugt von dem Unrecht und der Willkür durch die Indianeragenten, der die indigene Bevölkerung dort ausgesetzt war. Weder ihr Leben noch die ihnen zugesagten Rechte wurden respektiert. Abgaben in Form von Naturalien wurden von den Agenten verlangt, ohne dass für die Voraussetzungen, diese zu erwirtschaften, wie Saatgut oder Geräte, gesorgt war. Hungersnöte waren die Folge.
In einem anderen Reservat, in dem Winnemucca als Dolmetscherin angestellt war, machte sie zunächst völlig andere Erfahrungen. Die Indigenen bekamen Land zugeteilt, dessen Erträge sie zum größeren Teil behalten durften. Einige von ihnen wurden zu Handwerkern ausgebildet. Zusätzliche Arbeiten wurden bezahlt. Außerdem erhielten die Bewohner des Reservats Kleidung, Decken und andere Textilien, die sie benötigten. Nachdem ein Schulhaus gebaut war, in dem die Ehefrau des Agenten unterrichtete, half Winnemucca beim Englischunterricht. Das Blatt wendete sich, als ein neuer Agent kam. Jetzt musste für alle Leistungen bezahlt werden, obwohl den Indianern die Mittel dafür fehlten. Der Agent begründete diese Vorgehensweise mit dem Willen der Regierung in Washington. Ein Abgesandter der Paiute antwortete hierauf mit den Worten: "Hat die Regierung dir gesagt, hierher zu kommen und uns aus diesem Reservat zu vertreiben? . . . Wir möchten wissen, wie diese Regierung zu diesem Land kam. Ist die Regierung mächtiger als Gott-Vater oder ist sie unser Gott-Vater? Oh, was haben wir getan, dass er uns alles nimmt, was er uns gegeben hat? Seine weißen Kinder sind gekommen und haben uns alle Berge, alle Täler und alle Flüsse genommen; und jetzt, da er uns diesen kleinen Platz, um den wir nicht gebeten haben, gegeben hat, sendet er uns dich, um uns zu sagen, wir sollen verschwinden. . . ."
Der Kampf um die Rechte ihrer Gemeinschaft führte Winnemucca bis nach Washington. Von Innenminister Schurz wurde ihr schriftlich Land für jede Familie zugesichert, das diese zu ihrem eigenen Nutzen bebauen dürfte. Die Mitglieder ihrer Gemeinschaft reagierten mit großer Skepsis. Nachdem sie ein ganzes Jahr warten mussten, schrieb Winnemucca einen Brief an das Innenministerium, in dem sie ihre Situation darlegte. Das Schreiben wurde nie beantwortet. An dieser Episode wird deutlich, wie berechtigt das Mißtrauen der Indigenen gegenüber Versprechungen der weißen Administration war aber auch, wie leicht sich verhandlungsbereite Indigene in ihrer Gruppe dem Vorwurf der Komplizenschaft aussetzen konnten.
Winnemucca berichtet nicht nur von den Leiden und dem schweren Schicksal, das die Paiute ertragen mussten, sondern auch von der Denkweise, die in ihrer Gemeinschaft üblich war. Dies wird an jenen Stellen sehr deutlich, an denen sie ihren Großvater dafür werben lässt, nicht alle Weißen pauschal als böse anzusehen, nur weil es unter ihnen Personen gibt, die sich in schrecklicher und grausamer Weise an den Indianern vergangen haben. Die Erzählerin wendet sich in mehreren Passagen unmittelbar an ihre Leser und wählt damit eine Erzhählform, die auf ganz besondere Art geeignet ist, Betroffenheit und Mitempfinden auszulösen. Mehrfach spricht sie ausdrücklich ihr europäischstämmiges Publikum an. Die Dinge, die sie zu sagen hat, gehören auch heute, fast 150 Jahre nach ihrem Erscheinen, noch nicht der Vergangenheit an. Noch immer herrscht in den Reservaten große Armut. Noch immer werden die indigenen Kinder schlechter ausgebildet als die weißen. Noch ist es nicht lange her, dass die Boarding-Schools abgeschafft wurden. Wenn es um wirtschaftliche Interessen geht, etwa beim Bau von Pipelines, müssen immer noch traditionelle indigene Rechte zurückstehen. Noch immer werden Indigene, die sich für ihre Rechte einsetzen, strafrechtlich verfolgt und sogar mit Gefängnisstrafen belegt.
Über das Buch "Mamaskatch" des Cree Darrel McLeod findet man eine hervoragende und ausführliche Rezension auf
www.arbeitskreis-indianer.at/mamaskatch-darrel-mcleod-buchrezession.
"Dort, dort" ist einer der wenigen Romane indigener Autoren Nordamerikas, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Bedenkt man, wieviel Trivialliteratur über Indianer es in deutscher Sprache gibt, so ist allein schon dieser Umstand einer Erwähnung wert. Immer noch geistern Indianer hoch zu Ross und Bison jagend durch Bücher und Filme. Es wäre schon ein Erfolg, wenn das Buch von Tommy Orange einen Beitrag leisten könnte, hier Abhilfe zu schaffen. Nachfolger sind ihm zu wünschen.
12 Personen, von denen die meisten, wie Orange selber, den Cheyenne und Arapaho angehören, die sich untereinander jedoch nicht kenne, werden auf ihrem Weg zu dem Oakland-Powwow, wo es schließlich zum Showdown kommt, begleitet. Über diese Erzählung sind schon genügend Rezensionen verfasst worden, sodass an dieser Stelle nicht noch eine weitere hinzugefügt werden muss. Deshalb soll hier nur ein Aspekt herausgegriffen werden, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht, nämlich den der Zerissenheit indianischen Lebens in der Stadt zwischen einer erdrückenden Gegenwart und einer großen Vergangenheit. Einerseits sind die Personen, von denen in diesem Roman erzählt wird, von schweren Schicksalsschlägen gekennzeichnet. Andererseits sind sie aber auch Stolz auf ihre Vergangenheit und versuchen die Erinnerung an diese Vergangenheit zu bewahren oder neu zu beleben.
Die Schicksalsschläge, denen sie im Laufe ihres bisherigen Lebens ausgesetzt waren, sind ganz unterschiedlicher Natur. Da ist Tony Loman, dessen Gesicht auf Grund der Alkoholsucht seiner Mutter während der Schwangerschaft völlig entstellt ist. Sein Aussehen lässt ihn immer wieder ausrasten, seine Stärke und Größe verleiht ihm aber dennoch bei Gleichaltrigen so etwas wie Respekt. Da ist Edwin Black, dem seine Fettleibigkeit sehr zusetzt. Und da sind die Geschwister Opal Viola Victoria Bear Shield und Jacquie Red Feather, die eine reichlich unruhige Jugend hinter sich haben mit vielen Ortswechseln, dadurch bedingten Schulwechseln und einem Leben in Notunterkünften oder Autos und in Heimen und Pflegefamilien. Als Folge einer Vergewaltigung in ihrer Jugend wurde Jacquie alkoholabhängig und benötigte eine Entziehungskur, um ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Wieder andere der geschilderten Lebensläufe führten in die Kriminalität entweder, um sich Drogen leisten zu können, selber mit Drogen zu dealen oder, ganz einfach, um überleben zu können. Viele Personen dieses Romans haben mit häuslicher Gewalt und mit Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen Bekanntschaft gemacht.
Geschichten über das urbane Leben von Indigenen aber auch über die Traditionen und die Leiden der Vorfahren ziehen sich bei den meisten der vorgestellten Schicksale wir ein roter Faden durch die Handlungen. Die Mutter von Opal und Jacquie hat ihren Kindern häufig Gleichnisse erzählt, die sich auf den Landraub an den Native Americans beziehen. Solche Geschichten sollen an das Unrecht erinnern, das der indigenen Urbevölkerung angetan worden ist, und machen gleichzeitig auf die nachhaltigen Spuren aufmerksam, die diese Ereignisse im Denken der nachfolgenden Generationen bis heute hinterlassen haben. Diese Geschichten zeugen aber auch von einer besseren Vergangenheit, als noch keine Eroberer im Land waren, und vom Stolz auf diese Vergangenheit. Sie sind gleichzeitig Träume von einer zukünftigen besseren Zeit, in der auch den Indigenen Genugtuung für alle ihre Leiden widerfahren wird.
An zwei Vergleichen erläutert Orange das Leid der vergangenen Generationen. Wenn er die offene Wunde von Thomas Frank beschreibt, beschreibt er gleichsam das Schicksal der indigenen Nordamerikas, das wie eine offene Wunde sich immer wieder in Erinnerung bringt. An einer anderen Stelle benutzt er ein ähnliches Bild, indem er von Hausbesetzern erzählt, die den eigentlichen Besitzer des Hauses immer weiter an den Rand drängen und schließlich behaupten, er habe ihnen selber eine entsrpechende vertragliche Zusicherung gegeben.
Dene Oxendene beabsichtigt die Geschichten der urbanene Indigenen in einem Filmprojekt festzuhalten. Die Interviewten sollen ihre persönlichen Geschichten erzählen, sodass das Projekt im Grunde zu ihrem eigenen wird. Es sollen klischeefreie Erzählungen werden, in denen die Betroffenen ihre Lebensumstände realistisch darstellen und damit ein Dokument erschaffen können, in dem sie selber sprechen und nicht nur über sie gesprochen wird. Es geht Dene darum, mit diesen Geschichten ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu erzeugen. Er möchte hören, ob die Befragten sich in ihrem eignen Selbstverständnis als Native Americans verstehen.
Dieses Selbstverständnis bringt besonders jene Indigene Nordamerikas, die in Städten leben, immer wieder in einen Zwiespalt zwischen der Welt ihrer Vorfahren und der Welt der Weißen. Das zeigt sich etwa am Beispiel Orvils, einem Sohn Jacquies, der sich in einem Powwow-Kostüm, das er im Schrank seiner Adoptivmutter gefunden hat, etwas unwohl fühlt als jemand, der sich als Indianer verkleidet hat. Erst dieses Äußere macht ihn seiner Auffassung nach in den Augen der weißen Umwelt zu einem echten Native American. Umgekehrt ergeht es Tony. Erst als er sich überreden lässt, sich einmal mit den Insignien, die bei einem Powwow üblich sind, zu bekleiden, empfindet er keine Scham mehr sondern den Stolz eines ein traditionelles Ritual feiernden Tänzers. In beiden Fällen wird die Abhängigkeit der indigenen Identität von der Einschätzung des sozialen Umfelds deutlich. Die eigene Unsicherheit, die hierin zum Ausdruck kommt, verbalisiert Orvil, als er seine Brüder fragt, was eigentlich einen Native American ausmacht und sie ziemlich ratlos ohne eine echte Antwort bleiben. Auch die indigene Abstammung ihrer Adoptivmutter hilft ihnen nicht weiter. Natürlich kennen sie ihre Eigenschaften und Eigenarten, was daran aber indigen ist, ist ihnen dennoch nicht klar. Auch Edwin als Sohn einer weißen Mutter und eines indigenen Vaters ist diesem Zwiespalt ausgesetzt. Bei dem Verrsuch, ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln, erfindet er immer wieder Stämme, denen er angeblich angehört. Diese Schwierigkeiten können kaum überraschen. Der Name "Indian" oder übersetzt "Indianer" ist ihnen von den euro-amerikanischen Eroberern und Siedlern gegeben worden und suggeriert eine Homogenität, die es nie gegeben hat. Es gibt Cheyenne, Arapaho, Lakota, Cherokee, Creek, Choctow, Chickasaw und unzählige weitere Gruppen, die selten etwas miteinander zu tun haben und meist unterschiedliche Sprachen sprechen, die nicht immer untereinander zu verstehen sind, und unterschiedliche kulturelle Traditionen haben, die auch die Glaubenssystem mit einschließen können. Begriffe wie Native Americans, American Indians u. a. mögen als Sammelbegriff eine gewisse Berechtigung haben und den indigenen Gruppen einen Zusammenhalt geben, um ihre Interessen besser vertreten zu können. Mehr leisten sie jedoch nicht.
Der Zwiespalt, der bei der Suche nach der eigenen Identität zum Ausdruck kommt, zeigt sich im Roman Oranges auch an den Stellen, an denen traditionelle Verhaltensweisen angesprochen werden. So spielt der Peyote-Kult auch heute noch eine Rolle nicht nur bei Angehörigen jener Gruppen im Südwesten, bei denen er ursprünglich auftrat. Er entstand im 19. Jahrhundert und ist eine Mischung aus christlichen und traditionellen religiösen Elementen. Er geht somit nicht auf voreuropäische Traditionen zurück. Möglicherweise spricht er gerade deshalb vor allem jene Natives an, die in näherem Kontakt mit der europäisch-amerikanischen Bevölkerung leben. In ihm setzt sich der Zwiespalt zwischen "Indigen sein" und "Nicht indigen sein" fort. In der Passage seines Romans, in dem er Thomas am Verhalten seines Vaters, sich möglichst indianisch zu benehmen, verzweifeln lässt, unterstreicht Orange diesen Konflikt.
Trotz der schweren Schicksalschlägen, denen die Personen in Oranges Roman ausgesetzt waren, kann man aus deren Erzählungen auch so etwas wie Hoffnung herauslesen. Eine Mutter hat ihre Tochter nach langer Zeit wieder getroffen, ein Sohn zum erstenmal seinen Vater. Eine Alkoholigerin gewinnt den Kampf gegen ihre Sucht und ist in der Lage anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, wie sie gewesen ist, zu helfen. In den Geschichten, die Orange seine Personen schildern lässt, keimt auch ein wenig Zuversicht auf, dass die Zukunft der nächsten Generationen der in den Städten lebenden Indigenen besser sein wird als ihre Gegenwart - zumindest dann, wenn man unterstellt, dass diese Zukunft im Diesseits und nicht im Jenseits liegt.